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AutorenbildLukas Kellner

Jouhatsu | Folge 5 - Das erste Opfer

Aktualisiert: 19. Jan. 2022

Lone rieb seine Augen und sah bunte Farbtupfer entstehen, die sich kreisrund ausbreiteten, immer größer wurden und schließlich implodierten wie sterbende Galaxien.

Ihre letzten Worte hallten in ihm nach. Als es passierte, war ihm keine Zeit geblieben, sich der Tatsache bewusst zu werden. Jetzt aber, in einem einsamen Kämmerchen inmitten eines seltsamen Untergrundkomplex der Yonige-Ya von K, durchlebte er die Trauer, die er bislang von sich weggeschoben hatte. Er dachte an den Marienkäfer in der dunklen Gasse. Daran, dass sich die winzigen Beinchen auf seinem Daumen anfühlten wie kleine Pikser, als kitzele ihn jemand mit einem seidig weichen Haar. Ihr Haar. Er vermisste sie so sehr.

Es klopfte an der Tür. Er hatte herzlich wenig Lust aufzustehen, gab sich dann aber doch einen Ruck, entfachte das Licht und trat hinaus. Es war Edgar. Er lächelte ihn an, trotzdem war es offensichtlich, dass er sich nicht sicher war, wie er mit Lone umgehen sollte und ob er vorhin in der Mine etwas Falsches gesagt hatte.

„K ist wieder da“, erklärte er kleinlaut, „die ganze Familie sitzt schon beisammen. Abendessen. K wünscht sich, dass du dabei bist. Du musst doch auch sehr hungrig sein?“

Bei der bloßen Vorstellung, etwas zu essen, wurde Lone schlecht. Trotzdem entging ihm nicht, dass Edgar ihn besorgt musterte. Schuldgefühle piesackten ihn, weil er vorhin einfach gegangen war, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Er war wütend geworden, dabei hatte Edgar eigentlich nur versucht, ihm seinen Arbeitsplatz zu zeigen und nett zu sein. Obwohl Lone herzlich wenig Lust auf Gesellschaft verspürte, sich am liebsten ins Bett gelegt und die Welt ausgesperrt hätte, wollte er die Sache wiedergutmachen und Edgar nicht noch eine Abfuhr erteilen.

„Okay“, murmelte er und ließ sich von ihm in die Küche führen.


Es war zweifelsohne die seltsamste Runde, der Lone jemals beigewohnt hatte. Sie saßen an einer langen Tafel aus Holz, der Raum vereinte eine große Küche und ein geräumiges Esszimmer in sich. Die Wände waren wie überall aus Beton, jedoch erwärmten die Deckenleuchten das fahle grau mit orangegelbem Licht.

An einem Kopfende saß K. Selbst beim Essen schien sie ihren Admiralsmantel nicht abzunehmen. Ihr gegenüber, am anderen Ende saß Lone. Dazwischen reihten sich links und rechts Edgar und der breitschultrige Kid, gefolgt von acht weiteren Männern und einer Frau, die Lone allesamt noch nie zuvor gesehen hatte.

„Goldust, wie sieht es mit der neuen Immobilie aus, über die wir vorgestern gesprochen haben?“, fragte K und beförderte genüsslich einen Löffel von der warmen Kürbissuppe in ihren Mund, die jeder von ihnen mit einem Stück Brot vor sich stehen hatte.

„Gut. Ich konnte sie zu den besprochenen Konditionen erwerben“, antwortete der Mann neben Edgar. Er war eine ausgesprochen blasse Gestalt und trug zudem einen schwarzen Mantel, dessen Kragen fast die Hälfte seines Gesichts verdeckte.

„Perfekt. Aber genug von der Arbeit. Es ist Zeit für euer Tagesvotum. Wer möchte beginnen?“

Mit größter Selbstverständlichkeit meldete sich die Frau als erstes zu Wort: „Ich fang an! Ich würde meinem Tag eine 9 von 10 geben!“, ein Raunen ging durch die Reihe und übertönte das Löffel- und Geschirrgeklimper. Mit feuriger Euphorie fuhr sie fort: „Ich habe heute zum ersten Mal einen Pull-Up beim Training geschafft, deswegen. Das war mein Tageshighlight. Ein Lowlight gab es nicht.“

„Schön, das freut mich sehr!“, ergänzte K mit warmer Stimme, „Mav, wie sieht es bei dir aus“ Der junge Mann, der Edgar gegenüber saß räusperte sich. Er hatte fast schulterlanges, blondes Haar und ließ sich einen gepflegten Dreitagebart stehen. Seine Augen strahlten in einem kräftigen Blau, die, gepaart mit einem markanten, symmetrischen Gesicht, regelmäßig dazu führten, dass Frauen in seiner Umgebung in Verlegenheit gerieten, zuweilen unvollständige Worte aussprachen und manchmal nur betreten zu Boden blickten, während ihre Wangen rot anliefen wie reife Mohnblumen im Spätsommer.

„Nun, K, mein Tag war definitiv eine 1 von 10“, monierte er mit schmalziger Stimme. Alle sahen ihn fragend an, bis er sich endlich erbarmte im Tonfall eines Minnesängers weiterzureden: „Denn du K, warst nicht hier. Das hat mir das Herz gebrochen“ Kid stöhnte halb genervt, halb belustigt auf, Edgar schüttelte lachend den Kopf, K blickte grimmig drein und keifte: „Gut, danke dafür, Gronk, machen wir lieber mit dir weiter, wie war…“

„Was stimmt nicht mit meinem Namen?“ Das Geklimper der Löffel verstummte. Alle starrte Lone an, der K mit dunklen Augen fixierte. Sie erwiderte den Blick, lächelte und erklärte mit behutsamer Stimme: „Lone, wir haben eine Regel in unserer Familie. Wir hören uns am Tisch immer zuerst an, wie es den anderen geht und wie ihr Tag…“, Lone unterbrach sie erneut.

„Ich möchte wissen, warum du gestern von meinem Namen schockiert warst!“

„Du sollst die Klappe halten“, knurrte Kid von der Seite und fügte dann mit größtmöglicher Verachtung in der Stimme hinzu: „No-Chip!“

Obwohl Lone dieses Wort schon tausend Mal gehört hatte und obwohl ihn alle Welt damit beschimpfte und abstempelte, war es ihm bis zu diesem Augenblick immer herzlich egal gewesen. Doch jetzt zuckte seine Hand unweigerlich in Richtung des Buttermessers neben seinem Teller. Die Bewegung war kaum merklich, so minimal, dass man hätte meinen können, es stecke gar kein Motiv dahinter. Einzig K schien sie zu bemerken.

„Stopp!“

Ihr Schrei, begleitet vom Rasseln ihrer Kette, transportierte eine solche Macht, dass alle am Tisch augenblicklich erstarrten. Sie war aufgestanden und stützte sich mit den Fäusten auf der Tischplatte ab.

„Lone… begleite mich… bitte.“

Ohne Kid aus den Augen zu lassen, gehorchte Lone und folgte K hinaus.


K setzte sich nicht auf ihren Stuhl. Stattdessen blieb sie vor ihrem Schreibtisch stehen und lehnte sich halb daran an wie an einem Barhocker. Hinter ihr züngelte das Feuer im Kamin und umrandete ihre beeindruckende Erscheinung. Dennoch lag in ihren Augen ein Hauch von Traurigkeit, während sie Lone betrachtete, der sie grimmig anstarrte.

„Lone, du musst wissen…“, begann sie und schien über jedes einzelne Wort nachzudenken, „…, dass wir hier eine Familie sind.“

„Ich brauche keine Familie. Ich möchte nicht dazugehören, ich will Antworten!“, erwiderte Lone. Er war von sich selbst und der Härte seiner Worte überrascht. Bisher hatte er seine Emotionen immer sehr gut unter Kontrolle gehabt, war Konflikten aus dem Weg gegangen, hatte Beleidigungen und Anfeindung stillschweigend ertragen, aber nun übermannte ihn mit jeder weiteren Sekunde eine sinneszerreisende Wut, die sich in ihm ausbreitete wie ein fressendes Geschwür. K hingegen schien die Ruhe zu bewahren, mehr noch, sie begann zu lächeln.

„Ich erzähle dir nun etwas, das nur die wenigsten über mich wissen. Aber ich glaube, du musst es erfahren, um zu verstehen, warum ich so handele, wie ich es tue.“ Sie griff in die Innentasche ihres Mantels, holte ein goldenes Etui hervor, entnahm sich eine Zigarette und entzündete sie.

„Lone, ich war selbst ein Jouhatsu.“ Sie betrachtete das brennende Ende, so als wären ihre Worte einzig für die leuchtende Glut bestimmt. Dann, als erwache sie von einem Tagtraum, führte sie die Zigarette schnell zum Mund, nahm einen Zug und blies eine große Rauchwolke aus.

„Mein Vater hat mir schlimme Dinge angetan, deswegen musste ich aus meinem Leben fliehen. Ich dachte, weglaufen wäre meine Rettung. Doch am Ende war ich einsamer als je zuvor…“, sie kräuselte die Lippen und nahm einen weiteren, tiefen Zug, ohne Lone dabei aus den Augen zu lassen, „Wenn Menschen flüchten, dann immer, weil sie kein Teil mehr von etwas sind. Verstehst du? Deswegen ist Gesellschaft so wichtig. Deswegen ist Familie so wichtig. Das ist die einzige Konstante in unser aller Leben… Familie ist alles und wir alle sind Familie.“

Ihre Augen wurden glasig. Doch kurz bevor sich daran eine Träne zu lösen schien, stieß sich K vom Tisch weg und ging auf Lone zu. Kein Funken des Schmerzes war zurückgeblieben, ihre Aura erstrahlte wieder eisern, stark und fast schon furchteinflößend.

„Lone, ich möchte, dass du Teil dieser Familie wirst. Weil ich… weil ich dir gegenüber eine Schuld zu begleichen habe. Eine Schuld die mit deinem Vater zu tun hat.“

„Mein Vater?“, murmelte Lone und starrte K fragend an. Ohne ihm eine Pause zu vergönnen, um das Gehörte zu verdauen, fuhr sie fort: „Lone dein Vater war ein Jouhatsu. Ich war sein Project Manager, habe mich um die Abwicklung gekümmert. Ich weiß bis heute nicht, warum er aus seinem alten Leben fliehen wollte. Der Kodex gibt vor, dass darüber nicht gesprochen wird und ich habe mich daran gehalten. Ich weiß nur, dass er eines Tages zurückkam. Er wollte ein Teil der Yonige-Ya werden und begann für uns zu arbeiten. Er war ein ausgezeichneter Seeder, der beste, den ich je erlebt habe. Durch ihn konnten hunderte Menschen ein neues Leben beginnen. Er war ein großartiger Mann!“

Lone wurde schwindelig. Ein Teil von ihm wollte von alle dem nichts hören. Doch eine noch lautere Stimme in seiner Seele brüllte und bettelte, hoffte mehr zu erfahren, mehr von der Geschichte des Mannes, der ihn und seine Mutter vor Jahren verlassen hatte.

Als hätte K seinen Wunsch vorausgeahnt, ergriff sie seine Schultern, sah ihm tief in die Augen und erklärte: „Dein Vater hatte schwarze Haare, genau wie du. Er war auch eher schweigsam, redete zu Beginn nie besonders viel, aber wenn man ihn näher kennenlernte, mehr Zeit mit ihm verbrachte, war er der gesprächigste Mensch, den ich je erlebt habe. Und das lauteste Lachen, Gott, er hatte das lauteste Lachen, das du dir vorstellen kannst. Lone, ich glaube dein Vater wäre sehr stolz auf dich ge…“ Lone stieß K‘s Arme von sich weg und wich einige Schritte zurück. Schwer atmend und mit Tränen in den Augen keuchte er: „Warum? Warum erzählst du mir das?“

K begutachtete Lone und nahm sich lange Zeit für ihre Antwort. Schließlich flüsterte sie: „Weil ich glaube, dass du das wissen musst, bevor ich dir die Wahrheit sage.“

Eine Träne. Das war alles. Nur ein einziger, dünner, silbriger Faden, der sich von K’s rechtem Auge löste. Doch wog der bei ihr schwerer als bei anderen viele Tausend. Die Träne sickerte an ihrer Wange hinunter und bahnte sich langsam einen Weg bis hinab zu der großen, dicken Kette um ihren Hals.

„Lone… Ich gebe mir bis heute die Schuld daran. Und es ist der Grund, warum ich dich unbedingt bei mir haben möchte, obwohl wir uns nicht einmal richtig kennen. Um das zu verstehen, musst du wissen, dass vor ein paar Jahren eine neue Yonige-Ya ihre Arbeit in dieser Stadt begann. Niemand wusste genau, woher sie kamen. Doch eines wurde sehr schnell Offensichtlich: nämlich, dass sich diese neue Gruppierung nicht an den Kodex hielt. Es ist uns verboten, Menschen direkt anzusprechen, geschweige denn sie zu irgendetwas zu zwingen. Diese Yonige-Ya begann aber damit, Menschen gegen ihren Willen zu entführen und mit ihnen erzwungene Verträge abzuschließen. Sie haben Menschen ohne Einverständnis zu Jouhatsu gemacht und so Chaincoins generiert. Uns ist bis heute nicht klar, ob sie darüber hinaus noch andere Ziele verfolgen oder ob es ihnen nur um Geld und Macht geht. Der Mann an ihrer Spitze nennt sich Grey Dog.“ Bei der Erwähnung des Namens huschte ein Schatten über K‘s Gesicht. Sie legte die Stirn in Falten und Lone bekam das Gefühl, dass ihr etwas ungeheure Schmerzen bereitete. Nach einem langen Seufzer fuhr sie schließlich fort: „Bei einer unserer Missionen tauchten Grey Dog und seine Männer aus dem Nichts auf. Es war einer der ersten Angriffe dieser Art, wir waren vollkommen unvorbereitet. Ich nehme an, dass es ihr Ziel war, die Konkurrenz vom Markt zu vertreiben, ein Zeichen zu setzten. Dein Vater hat mich damals gerettet. Er ist der Grund, warum ich heute hier vor dir stehe. Leider… hat er... hat er mit seinem Leben bezahlt.“

Als reiße es ihn aus Raum und Zeit hinaus, umhüllte Lone schlagartig eine seltsame Stille. Sein Inneres schien in einen schwerelosen Fall geraten zu sein, er fühlte sich für einen Augenblick ganz leicht, befreit und unantastbar. Dann kam der Aufprall, der zwingende Sog in die Realität hinein, der auf ihn einprügelte und ihn unbarmherzig niederquetschte. K‘s Worte drangen nur noch dumpf an seine Ohren heran, dennoch verstand er jedes einzelne davon.

„Lone. Dein Vater wurde von Grey Dog ermordet. Er war sein erstes Opfer.“

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