„Er war es, ohne Zweifel“, seufzte Gronk in die Stille hinein. Sie standen neben dem weißen Van in einer Lagerhalle. K hatte sich gerade eine Zigarette angesteckt und nahm einen tiefen Zug.
„Grey Dog, dieser verdammte Wicht!“, knurrte sie. Mit der rechten Hand hielt sie sich an der Kette um ihren Hals fest und blickte nachdenklich in die Ferne.
„Sie müssen die Yonige-Ya von Dozer benachrichtigen. Es waren seine Männer.“
„Ich muss gar nichts“, schnaubte K und starrte Gronk wütend an. Der schluckte, blickte rasch zu Boden und murmelte: „K ich… es wird immer gefährlicher. Wenn es so weitergeht, liegt da bald… unsere Familie.“
Bei dem Wort Familie, verstummte das Geklimper von K‘s Kette. Sie musterte Gronk zunächst mit strenger Miene. Irgendwann jedoch ließ sie die Schultern sinken, rieb sich die Stirn und erwiderte mit ruhiger Stimme: „Ja, Gronk, ich weiß… Ich werde mich jetzt auf den Weg machen. Kümmere dich um die beiden und bereite alles für ein Abendessen vor. Ich möchte, dass alle dabei sind, hast du verstanden?“
„Ja, K!“, antwortete Gronk.
„Gut.“ K nickte ihm zu.
Ohne den beiden Leichen Beachtung zu schenken, die zu ihren Füßen blutbesudelt dalagen, drehte sie sich mit wehendem Mantel um und ging zügig davon.
Obwohl es im Augenblick genügend andere Probleme gegeben hätte, die K‘s volle Aufmerksamkeit einforderten, ließ ihr dieser eine ganz bestimmte Name keine Ruhe mehr. Lone Abendroth… Er hieß tatsächlich Lone Abendroth!
„Jouhatsu“, flüsterte Lone. Er hatte das Licht gelöscht. Das Zimmer, das sie ihm gegeben hatten, war zwar recht klein, wies aber alles auf, was es für den täglichen Bedarf und ein Mindestmaß an Komfort brauchte. Ein Bett, einen kleinen Schreibtisch, ein eigenes Badezimmer mit Aluminiumwaschbecken, Toilette und Dusche. Zu Essen hatten sie ihm ebenfalls gegeben, auch wenn er keinen einzigen Bissen davon hinunterbrachte. Tausend Fragen schwirrten ihm im Kopf herum, machten sein Gemüt ganz schwindelig und seinen Magen flau. Alle endeten bei einem Namen. Seinen Namen.
Es klopfte. Erschrocken sprang Lone auf, drückte den Lichtschalter und öffnete die Tür. Edgar stand vor ihm. Er lächelte gequält, fuhr sich nervös durch das Haar und hechelte beim Sprechen, so als hätte er gerade einen kurzen Sprint hinter sich.
„Hi… ich, ähm… also, wenn du nichts dagegen hast, also, ich verstehe auch, wenn du gerade mit anderen Dingen beschäftigt bist. Beziehungsweise wahrscheinlich nicht, du bist ja sicherlich ohne Arbeit hergekommen“, er verschluckte sich, lachte dann einmal kurz, rieb sich den Nacken und erklärte: „Was ich sagen will ist: Wenn du Lust hast, dann zeige ich dir ein bisschen unser kleines Zuhause hier unten“
„Zuhause?“, hakte Lone zögerlich nach.
„Ehm ja, wir wohnen und arbeiten hier, wir sind äh… gewissermaßen eine Familie!“, erklärte Edgar und redete dabei doppelt so schnell als nötig.
„Familie“, murmele Lone.
„Ja, aber… du scheinst viel zu tun zu haben, darum lass ich dich mal lieber… lass ich dich mal lieber in Ruhe“, stotterte er und wollte gerade davoneilen, als Lone hastig hinzufügte: „Nein, nein, ich würde es gerne sehen!“
Auf Edgars Gesicht erwuchs ein breites Grinsen, das ihm förmlich vom einen Ohr zum anderen reichte. Er wirkte wie ein zufriedener und reich beschenkter Junge am Weihnachtsabend.
„Oh ja? Das freut mich, ich kriege normalerweise nicht so oft fremden Besuch hier unten. Komm, komm!“, drängte er, ergriff mit flammender Euphorie Lones Arm und zog ihn mit sich. Er führte ihn zu dem länglichen Gang, durch den Lone das unterirdische Zuhause von K‘s Yonige-Ya das erste Mal betreten hatte. Erst dort bemerkte Edgar, dass er seinen neuen Freund doch eher grob als feinfühlig mit sich zerrte, lockerte seinen Griff, räusperte sich und deutete auf eine Tür ungefähr in der Mitte des Korridors. Auch diese war aus dunkelgrauem Metall gefertigt, an den Ecken abgerundet und damit in Form und Gestalt denen auf Schiffen und U-Booten sehr ähnlich.
„Das… also das ist gewissermaßen mein Büro!“, triumphierte er mit geschwollener Brust, trat an die Luke heran und entriegelte sie mithilfe der kleinen, runden Kurbel daran.
„Herzlich Willkommen in meiner Mine!“, verkündete er stolz, öffnete energisch die Tür und plusterte sich dabei auf wie ein paarungswilliger Papagei. Lone zögerte zunächst, gab dann aber dem entschiedenen Nicken Edgars nach und trat als erster über die Schwelle.
Es war sehr düster und deswegen für Lone nicht direkt zu erkennen, wie groß dieses ‚Büro‘ überhaupt war. Seine Augen brauchten eine Weile, um sich an die dunkle Umgebung zu gewöhnen und gerade, als sich die ersten Umrisse und Konturen aus den Schatten erhoben, hörte er hinter sich ein Klicken. Mit einem leisen Summen erleuchteten mehrere Computerbildschirme gleichzeitig. Es waren dutzende, links und rechts bis an die Decke übereinandergestapelt. Außerdem unzählige Tastaturen und Mäuse – mal alte weiß-vergilbte, mal moderne, in Regenbogenfarben leuchtende –, die zwischen der Technik herumlungerten und nur darauf warteten, benutzt zu werden.
Edgar tänzelte freudestrahlend voran und begann zu erklären: „Das hier ist mein Reich. Du musst wissen, dass ich ein Chainer bin, ein ziemlich guter sogar… wenn ich das mal so behaupten darf“, er räusperte sich, zeigte ein verschmitztes Lächeln und rückte sich die Brille gerade, „So ein Jouhatsu ist nicht leicht zu organisieren, weißt du. Jede Yonige-Ya hat deswegen verschiedene Abteilungen. Ich bin ein Chainer. Wir kümmern uns um den Smart Contract, den du mit uns abschließt. Basiert auf Block-Chain. Im Prinzip bekommen wir außnahmslos alle deine bisherigen Daten. Die versiegeln wir dann in einem digitalen Vertrag. Dadurch entstehen Chaincoins. Ist sowas wie eine digitale Währung, die Yonige-Ya untereinander benutzen. Häufig steht Menschen, die Jouhatsu werden möchten, nicht so viel Geld zur Verfügung und auf diese Weise kriegen wir ganz sicher immer Kohle für unsere Arbeit! Entspricht natürlich alles dem Kodex!“
Lone trat mit halbgeöffnetem Mund an einen der Bildschirme heran. Dutzende Ladebalken darauf markierten den Fortschritt verschiedener Uploads.
„Ganz schön beeindruckend, oder? Schau mal hier!“, er ergriff Lone erneut am Arm (dieses Mal mit mehr Bedacht nebst angebrachtem Fingerspitzengefühl) und führte ihn an das entlegene Ende des Raumes. Dort stand eine Werkbank, die über und über mit kleinen Werkzeugen, Lupen, Lötkolben, Drähten und anderen Utensilien übersäht war.
„Hier baue ich die Ersatz-Chips, für die No-Chip-Jouhatsu. Sie können damit bezahlen oder öffentliche Gebäude und sowas betreten. Aber ihre Daten werden, anders als bei den anderen, nicht ständig an die Regierung übermittelt. Ein kleines Programm, das ich entworfen habe, trickst dabei die Lesegeräte aus und verhindert, dass es eine Fehlermeldung gibt! So bleiben sie unter dem Radar und bekommen auch als illegale Jouhatsu keine Probleme“, berichtete Edgar mit flammender Faszination in den Augen. Lone zwang sich zu einem Lächeln und nickte. Er wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass ihn Edgars Arbeit nicht beeindruckte. Dennoch musste er sich eingestehen, dass er von seiner Erklärung so gut wie nichts verstanden hatte. Edgar schien das zu bemerken, denn er räusperte sich erneut und fasste mit gedämpfter Stimme zusammen: „Also es ist so: zuerst wird den Menschen ein Angebot gemacht. Dafür haben wir die Spotter. Die suchen an der Oberfläche nach Leuten, bei denen sie glauben, dass es ihnen schlecht geht und sie deswegen Jouhatsu werden möchten. Wir dürfen sie wegen des Kodex nicht direkt ansprechen und können nur ein unterschwelliges Angebot machen, das verkompliziert die Sache natürlich etwas. Dann gibt es in der Regel immer einen Project Manager für jeden Jouhatsu, das macht meistens K. Sie koordiniert dann den Chainer – also mich – und den Crawler. Crawler sind dafür zuständig, neue Wohnorte für die Jouhatsu zu finden, einen Job zu organisieren und die Ankunft in der fremden Heimat vorzubereiten. Dann gibt’s da noch die Seeder, das ist sowas wie unsere Eingreiftruppe. Die kommt dann zum Einsatz, wenn der Jouhatsu nicht so einfach aus dem alten Leben entkommen kann. Bei häuslicher Gewalt oder solchen Dingen. Sie machen auch noch andere Sachen, aber davon kriegen wir immer nicht so viel mit. Unter uns gesagt sind das nicht die gesprächigsten Gesellen, Kid hast du ja schon kennengelernt“, er verdrehte die Augen, „wegen Kerlen wie Kid, bin ich immer wieder ganz froh, wenn mir Fremde hier unten etwas Gesellschaft leisten.“
„Edgar?“, unterbrach ihn Lone, der gar nicht mehr richtig zuhörte und zu Boden blickte. Mit der linken Hand umschloss er sein rechtes Handgelenk und fuhr dabei mit dem Daumen über seine Brandnarbe. Es war ein Tick von ihm, ein unbewusster Reflex, der immer dann einsetzte, wenn er nicht genau wusste, was er sagen sollte oder wie er eine Situation einzuschätzen hatte.
„Ja?“
„Was stimmt nicht mit meinem Namen?“
Edgars Lächeln verblasste. Er war es nun, der zu Boden sah, um Lones Blicken auszuweichen, der den Kopf gehoben hatte und dessen dunkle Augen im Schein der Monitore hell erleuchteten.
„Das… ähm, das weiß ich tatsächlich nicht, Lone“, murmelte er.
Beide schwiegen. Um sie herum summten die Computer und erinnerten dabei an das Raunen eines Publikums oder an den leise prasselnden Regen in einer kalten Septembernacht. Irgendwann hob Edgar den Kopf und seufzte.
„Weißt du… auch wenn ich deinen Namen vorher noch nie gehört habe und dich… also dich ja gar nicht kenne, möchte ich, dass du weißt, dass… Sagen wir einfach, ich kann verstehen, warum du genug von dieser Welt hast.“
Lones Augen wurden glasig. Die Erinnerung an das Krankenzimmer drängte sich zurück in sein Bewusstsein. Obwohl seitdem noch kein ganzer Tag vergangen war, hatte er es für einen Moment beinahe vergessen. Vergessen, was er getan hatte.
„Bist du dir da sicher?“, raunte er und wischte sich einmal mit dem Ärmel seines Pullovers über die Augen.
„Lone… tut mir leid, ich…“, begann Edgar zu stottern. Aber Lone hatte sich schon umgedreht und war gegangen.
Er saß inmitten von Dunkelheit und nur der weiße Rauch zog helle Linien in den Ruß der Nacht. Er dachte an die zurückliegenden Stunden, an die unberechenbare Zeit, die sich doch stets unterschiedlich offenbarte. Mal fühlte sie sich langsam an und zäh wie schwarzes erhitztes Pech, mal verging sie so rasant und flüchtig wie ein Wimpernschlag. Er hob die Hand und strich sich über die bärtige Wange. Er fühlte Nass. Eine Träne. Nicht die einzige. Grey Dog begann zu lachen. Zuerst leise und zögerlich, dann immer lauter, tiefer und dunkler. Das Lachen war das Eine, was ihm blieb.
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