K unterbrach ihr Gespräch mit Kid, nachdem Lone ohne anzuklopfen in ihr Arbeitszimmer gestürmt war. Obwohl sie ganz genau spürte, dass etwas nicht in Ordnung war, beschenkte sie ihn mit einem unschuldigen Lächeln und fragte: „Lone. Na, was gibt es?“
Ihre Freundlichkeit nahm Lone einen Teil seines Momentums. Dennoch verflüchtigte sich die Wut in seinem Bauch nicht einfach, daran konnten auch K‘s forschende Augen keinen Abbruch tun und erst recht nicht Kids grimmig dreinschauende Fratze.
„Ich muss mit dir reden!“, schnaubte er.
„Hm, soll Kid gehen?“ Lone ging nicht auf die Frage ein und hämmerte los: „Ich verlange“, bei dem Wort ‚verlange‘ kam er sich äußerst albern vor, aber er ignorierte den kurzen Stich in seiner Magengegend, „Ich verlange, dass ich dabei bin, wenn ihr das nächste Mal Grey Dog nachjagt!“
K seufzte. Sie ließ den Kopf etwas hängen, griff dann blind neben sich auf den Schreibtisch, nahm eine Zigarette und steckte sie sich an. Für einen Moment verdeckt ein großer Ball aus waberndem Rauch ihr Gesicht, ehe er sich mit seiner Umgebung vermischte und sich schließlich ganz auflöste.
„Lone… du gehörst jetzt zu dieser Familie und deswegen“
„Nein.“ Lone unterbrach sie, beherrschte sich aber genug, um dem Drang zu schreien nicht nachzugeben. Er hasste sich selbst, wenn er schrie. Er kam sich dann hilflos vor, wie ein schiffbrüchiger auf stürmischer See, gefangen zwischen peitschendem Wind und schäumender Gischt. Ausgeliefert in sich selbst.
„Nein, ich gehöre nicht zu dieser Familie. Das ist ja das Problem! Sonst würdet ihr mich mitnehmen. Sonst…“, er schluckte, sprach dann aber doch das aus, was ihm in den Sinn gekommen war, „Sonst würdet ihr mich respektieren!“
K schwieg. Sehr lange. Lone wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Er biss die Zähne aufeinander und forschte nach Dingen, die er noch hinzufügen könnte, um seinen Standpunkt klarzumachen. Doch er hatte alles gesagt und wurde auch nach endlosen Sekunden mit keiner Antwort beschenkt. Kurz bevor er sich umdrehen und wutentbrannt davonstapfen wollte, nickte K Kid zu und sagte: „Wir sollten es ihm zeigen. Er muss es verstehen.“
„Er hat kein Recht dazu!“
„Natürlich hat er das“, zischte K und warf Lone einen vielsagenden Blick zu, „Er gehört zur Familie!“
Sie erhob sich und folgte Kid zu der Tür, die in der rechten Wand ihres Arbeitszimmers neben dem hüfthohen Globus die Abfolge von barrocken Gemälden unterbrach. Kid öffnete sie und trat sofort ein, K zögerte, drehte sich zu Lone um und winkte ihm zu.
„Komm. Ich hätte dir das wahrscheinlich schon viel früher zeigen sollen!“
Obwohl Lone keine Ahnung hatte, was ihn erwartete, begann er zu nicken und folgte K in das verdunkelte Zimmer.
Ayumi saß auf der Bank am Ende der Straße. Sonne benetzte ihre Haut und verursachte ein Kitzeln, das sich anfühlte, wie die schüchterne Berührung eines jungen Liebhabers. Sie dachte an Lone. Sie glaubte, seinen Schmerz spüren zu können. Gleich bei ihrer ersten Begegnung meinte sie zu fühlen, was in ihm vorging. Letzte Nacht erfuhr sie dann, dass sie seine Wunden unterschätzt hatte. Sie zog ihren Pullover an der rechten Hand etwas zurück und betrachtete die große, verblichene Narbe. Erinnerungen drängten in ihren Geist und wieder begann derselbe Kampf, dasselbe Ringen, der immer gleiche Kraftakt. Sie fragte sich, ob sie eines Tages befreit werden würde. Ob es sie nicht mehr unter sich begrub wie heißer Wüstensand – ihr den Körper verbrannte und verstümmelte, nur dass von außen keine Narben blieben. Nur die eine.
Ausgerechnet Lone hatte einen großen Einfluss darauf. Sie konnte es sich nicht erklären, woran es lag, ob es seine Art war, die Neigung, eher zuzuhören als zu sprechen und sie auf diese ganz besondere Weise anzusehen, so als wäre er gerade von etwas Schönem überrascht worden, von einem besonders prächtigen Baum, einem lachenden Kind oder einem lang erwarteten Sonnenaufgang. Sie kannten sich erst seit zwei Wochen, hatten dafür aber beinahe jede Nacht miteinander verbracht. War es der Mangel an Schlaf, der ihr vorgaukelte, dass sie schon seit Jahren Zeit mit ihm teilte. Der ihr ein Gefühl einhauchte, das gar nicht da war? Nicht da sein durfte?
„Nur ein Opfer für das große Ganze“, murmelte sie, „Nur ein Opfer…“
Lone starrte mit offenem Mund die hell erleuchtete Glasscheibe an, auf der viele Filme gleichzeitig abgespielt wurden. Es schien eine Art holografische Projektionsfläche zu sein, die aus einem rechteckigen, hüfthohen Tisch mit Bedienkonsole hervorragte und so ziemlich das einzige war, das sich in dem Nebenzimmer befand. Die Wände waren schwarz, um möglichst viel Licht zu absorbieren und alle Aufmerksamkeit in das Zentrum zu lenken. Auf die Grausamkeit, die sich dort abspielte.
Jedes einzelne Video zeigte verstümmelte Menschen, Leichen, teilweise Ausschnitte von Kämpfen, flüchtende Männer in wilder Aufruhe.
„Das ist sie, Lone. Die traurige Realität. In den letzten Monaten ist es immer schlimmer geworden. Grey Dogs Organisation ist gewachsen. Sie verschleppen Jouhatsu, töten die meisten, torpedieren unsere Missionen und gehen dabei so blutrünstig vor wie nie zuvor. Bisher hatten wir Glück, die meisten Opfer kommen von anderen Yonige-Ya.“
„Warum?“, murmelte Lone, den die Bilder geradezu hypnotisierten.
„Wir wissen mittlerweile, dass er gezielt Chaincoins produziert. Wofür und worauf er hinarbeitet ist mir aber noch ein Rätsel. Vielleicht ist er auch einfach ein Verrückter.“
„Nein, ich meinte, warum verschont er uns bisher?“
„Hm…“, K nahm einen tiefen Zug an ihrer Zigarette. Der Rauch prallte an die Glasscheibe und ließ einige der Bilder kurz flackern, „Nun, wir sammeln seit einiger Zeit Informationen. Alles, was wir wissen, hat Kid hier zusammengetragen“ Sie deutete auf das Bedienfeld, an dem Kid etwas in einen Touchscreen eintippte, woraufhin sich die Videos und Bilder in langsamen Takt mit anderen abwechselten, „Trotzdem haben wir bisher keinen roten Faden finden können, keine eindeutige Erklärung.“
Lones Blick fiel auf ein Video ganz unten rechtes. Darin war eine Art Treffen zu beobachten. Darunter stand der Dateiname: Grey Dog - Mitglied Nr. 12 bei Übergabe. Sein Herz begann zu klopfen, als er das Gesicht einer der Männer in dem Video wiedererkannte.
„Aber ich habe da so eine Vermutung“ K‘s Tonfall hatte sich geändert. Obwohl ihn seine Entdeckung eigentlich voll und ganz einnahm, hob Lone den Kopf und ihre Blicke trafen sich.
„Lone, ich glaube, du bist der Grund. Ich glaube, er weiß, dass du bei uns bist und er verbindet etwas mit dir. Was genau, kann ich nicht sagen, vielleicht ist es einfach der Fakt, dass…“
„Dass er meinen Vater ermordet hat“, vervollständigte Lone den Satz.
„Ja... Vielleicht deswegen.“ K zwang sich zu einem gequälten Lächeln, dann durchzuckte die gewohnte Strenge wieder ihre Augen. Sie richtete sich auf und erklärte: „Deswegen möchte ich nicht, dass du bei den Missionen dabei bist. Du gehörst zu dieser Familie und meine oberste Priorität ist es, dich zu beschützen. Dafür gebe ich mein Leben. Und es ist für dich noch zu früh. Sobald ich mir sicher sein kann, dass du der Gefahr gewachsen bist, möchte ich dich dabeihaben. Doch bis dahin…“ Sie fixierte Lone als hinge ihr Leben davon ab ihn zu überzeugen
„Bis dahin bleib bitte hier!“
Lone huschte den dunklen Korridor entlang. Die anderen schliefen bereits. Es war 3 Uhr früh und er schlich sich davon. Leise und vorsichtig schloss er die Tür zum Unterschlupf der Yonige-Ya, wandelte den schmalen Weg bis zur U-bahnstation, wo er über die Absperrung kletterte und noch bis zur Mitte des Bahnsteigs ging.
„Wo willst du hin?“
Lone wirbelte herum. Hinter ihm stand Edgar. Er hatte die Fäuste geballt, seine Brille saß ihm schief auf der Nase und sowohl die dunklen Ringe unter seinen Augen als auch die verstrubelten Haare waren ein eindeutiges Zeichen, dass er bis vor kurzem noch tief und fest geschlafen hatte. Lone schwieg. Er wusste nicht, was er hätte sagen sollen. Das wiederum schien Edgar nur noch wütender zu machen. Er stampfte auf ihn zu und blieb circa einen Meter vor ihm stehen. Lone wagte es nicht, ihn anzusehen und fixierte stattdessen die Werbetafeln, die an die Mauer hinter dem Gleisbett projiziert wurden.
„Lone! Ich rede mit dir!“
„Ich will mir ein bisschen die Beine vertreten“
„Die Beine vertreten, ja?“
Lone nickte. Edgar kam noch einen Schritt näher.
„Wieso lügst du mich an, Lone, wieso?“
„Was kümmert es dich?“ Lone drehte sich nun doch zu ihm um. Er war etwas größer als Edgar und starrte ihm von oben herab grimmig in die Augen.
„Hm? Was kümmert es euch? Was kümmert es die Familie? Ihr habt doch sowieso alle gedacht, dass ich Information an Grey Dog liefere.“
„Scheiß auf die Familie, ich dachte wir sind Freunde!“
„Freunde!“, Lone lachte. Er wusste nicht genau wieso, es kam einfach aus seinem Innern, es bäumte sich in seiner Magengrube auf, wanderte hinauf und verwandelte sich schließlich in eruptive Laute.
„Freunde, Edgar, wirklich? Du hast mich ja wie ein wahrer Freund verteidigt, als die anderen begonnen haben, mich zu beschuldigen. Wie ein echter Freund bist du dagesessen und hast Däumchen gedreht. Du bist kein Freund, du bist ein…“ Lone konnte sich gerade so davon abhalten, die Worte auszusprechen, die ihm sein Kopf diktierte. Die Gedanken, die in ihm brüllten und drängten, erschraken ihn, wenngleich ihm die speiende Wut verklärte, dass es so genau richtig war.
Edgars Augen zitterten in ihren Höhlen, schienen Lone abzutasten, so als suchten sie nach etwas, das verloren gegangen war. Er gab ein seufzendes Schnauben von sich, nickte ab und schüttelte den Kopf.
„Ich habe dich bei K verteidigt, Lone. Ich war bei ihr! Ich habe ihr gesagt, dass man dich mehr einweihen und einbinden muss. Dass man dich wie einen Erwachsenen behandeln muss, wie ein Familienmitglied. Dass du es verdient hast. Und das, obwohl ich von dir und Ayumi Bescheid weiß!“ Edgar hob den Kopf und sein Blick stierte Lone messerscharf entgegen.
„Ja, Lone, ich weiß, dass du den Kodex verraten hast. Ich weiß, dass du die Familie verraten hast. Ich weiß, dass du mich verraten hast. Und ich habe trotzdem niemanden davon erzählt und dich sogar verteidigt. Weil ich… Weil ich dich mag. Weil ich nicht möchte, dass dir etwas passiert. Weil du eine Familie verdient hast!“
Lone hörte jedes einzelne Wort, doch drangen diese immer dumpfer an sein Ohr heran. Das lag nur zum Teil an der Bahn, die soeben dicht neben ihnen am Gleis einfuhr. Es fühlte sich an, als hätte Edgar ihm den Boden unter den Füßen entzogen. Für einen Moment erinnerte er sich an seine erste Woche bei den Yonige-Ya. An die Filmabende mit ihm, an ihre langen Gespräche, daran, wie Edgar unbeholfen versucht hatte, ihn aufzumuntern.
Obwohl Lone ganz genau wusste, dass zwischen dem jetzt und diesen Ereignissen nur wenige Wochen lagen, fühlte es sich an, als erinnere er sich dabei an längst vergangene Zeiten oder an einen alten Schulfreund, mit dem er einst alles geteilt hatte, der dann aber auf eine andere Universität gegangen war und den er deswegen aus den Augen verloren hatte. Alte Bekannte und Fremde sind im Grunde gleich, nur dass alten Bekannten meist die Möglichkeit genommen wurde, sich kennenzulernen.
„Ich will nicht dazugehören“, flüsterte Lone. Dann wandte er den Blick ab, schlüpfte durch die sich verschließenden Türen der U-Bahn und war wenige Sekunden später verschwunden. Edgar blieb noch eine Weile mit geröteten Augen stehen. Irgendwann schüttelte er den Kopf, wischte sich über die Stirn und murmelte: „Ich muss zu K.“
Grey Dog saß auf dem Beifahrersitz und starrte nach draußen. Die Neon-Reklametafeln und Straßenlaternen peitschten über den Wagen und erleuchteten die Kabine immer nur für Sekundenbruchteile wie berstende Blitze.
„Und du glaubst, dass das alles funktionieren wird?“, fragte der Fahrer.
„Oh ja!“, knurrte Grey Dog, „Ja, das hat er wirklich gut gemacht… dieser Kid.“
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